H.G. Wells

WELLS

von Werner Olles

Herbert George Wells, kurz H.G. Wells, zählt zu den interessantesten und vielseitigsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Sein Gesamtwerk umfaßt etwa einhundert Bände und reicht von theoretischen Schriften zu Biologie, Zeitgeschichte, Philosophie und Politik bis zu seinen weltberühmten Romanen und Erzählungen. Es sind dies Musterbeispiele der phantastischen und utopischen Literatur, wahre Klassiker origineller Erzählkunst. Als Ahnherr der modernen SF-Literatur und als einer der genialsten Autoren dieses Genres ist Wells in die Geistesgeschichte eingegangen.

Geboren wurde H.G. Wells 1866 in dem Städtchen Bromley in der englischen Grafschaft Kent. Der Vater war Gärtner, später besaß er einen kleinen Stoffhandel, war jedoch als Geschäftsmann nur wenig erfolgreich. Die kleinbürgerlich-bigotte Welt seiner Eltern schien dem jungen Wells nicht so recht zuzusagen, denn bereits nach kurzer Zeit löste er sein Lehrverhältnis bei einem Stoffhändler und wurde Drogerieverkäufer. Auch hier hielt es ihn nicht lange. Als Hilfslehrer kam der Autodidakt zu einem beachtlichen Wissen und erhielt schließlich ein Stipendium für die Londoner South Kensington Science School. Hier studierte er Naturwissenschaften und wurde von seinem Lehrer Thomas H. Huxley, einem Biologen, der als überzeugter Anhänger der Darwinschen Evolutionslehre galt, stark beeinflußt.

1891 heiratete Wells die Schriftstellerin Amy Catherine Robbins und veröffentlichte vier Jahre später die phantastische Geschichte eines in die Zukunft fliegenden Erfinders: "The Time Machine" (dt. "Die Zeitmaschine"). Durchaus prosaisch schilderte Wells ein wahres Paradies, in das der Zeitreisende gerät, bevölkert von den Eloi, geradezu anmutigen und unbeschwert-kindhaft und sorglos lebenden Geschöpfen. Doch schon bald bemerkt der Erfinder, daß auch in dieser scheinbar so friedvollen und gewaltlosen Gesellschaft der nackte Terror herrscht, denn die Eloi werden drangsaliert und ausgebeutet von den Morlocks, unterirdisch lebenden Räubern, die die harmlosen Eloi unbarmherzig massakrieren.

In "The Island of Doctor Moreau" (1896, dt. "Die Insel des Doktor Moreau") ist der Protagonist ein aus England zwangsweise ausgewiesener Wissenschaftler, der auf einer Südseeinsel üble Experimente durchführt, bei denen er Tiere mittels operativen Eingriffen in Tiermenschen verwandelt. Moreau, dieser dämonische Vivisektionist, ist dabei zugleich Prometheus und strafender Gott. Die Parallele zur Schöpfungsgeschichte ist dabei unverkennbar: Stets ist der Mensch vom Abgleiten in den Zustand der Bestie bedroht und wie die von Moreau geschaffenen Kreaturen ist auch die Menschheit zum Leiden verurteilt.

Wells frühe Werke waren durchaus geeignet, den Seelenfrieden viktorianischer Bürger zu stören, aber der Schriftsteller tat noch ein übriges. 1903 schloß er sich der Fabian Society an, einer 1883 gegründeten Vereinigung britischer Sozialisten, kritisierte ihre Methoden aber schon wenige Jahre später heftig. Erfolglos kandidierte er 1922 und 1923 für die sozialistische Labour Party, aber je mehr er sich für Metaphysik und die Ideen von Weltbürgertum und Weltstaat interessierte, schwanden seine sozialrevolutionären Anschauungen.

Den 2. Weltkrieg hatte der tragische Visionär bereits 1898 literarisch vorausgesehen. In "The War of the Worlds" (dt. "Der Krieg der Welten") sind die Aggressoren zwar insektenhafte Marsbewohner, die alle von einem einzigen, riesigen Gehirn abhängen, aber Wells führte als erster Autor seinen schockierten Lesern vor, wie der moderne Krieg tatsächlich aussehen würde. Die Marsianer legen ganz England in Schutt und Asche und schonen die Zivilbevölkerung keineswegs. Deutlich zeigten sich hier Wells äußerst pessimistische Zukunftsperspektiven. Der Autor ahnte, daß sich sein "Utopia" wohl nicht verwirklichen lassen würde und seine Vision vom "Neuen Menschen" durch die Evolution selbst widerlegt wurde. Einer der Höhepunkte der Phantastischen Literatur ist die Parabel "The Food of the Gods" (1904, dt. "Die Riesen kommen"). Der Autor wirft hier die Frage auf, ob die Menschen wie einst die Dinosaurier zum Aussterben verurteilt sind. Unterströmt von scharfen gesellschaftskritischen Gedanken gehört dieser Spannungsroman zum Besten, was die klassische Science Fiction überhaupt zu bieten hat.

Neben der Phantastischen Literatur beschäftigte sich der Großschriftsteller H.G. Wells mit den verschiedensten Themen. So verfaßte er u.a. mit dem Biologen Julian Huxley und seinem Sohn G.P. Wells ein biologisches Handbuch, einen Kommentar zur Nationalökonomie ("The Work, Wealth and Happiness of Mankind", 1932, dt. "Arbeit, Wohlstand und das Glück der Menschen") und eine Weltgeschichte in zwei Bänden ("The Outline of History", 1919, dt. "Die Weltgeschichte"). In seinen späten Werken "The World of William Clissold" (1926, dt. "Die Welt des William Clissold") und vor allem in "Mind at the End of its Tether" (1945, dt. "Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten") tritt im Gegensatz zu seinen frühen, naturwissenschaftlichen Werken, aber auch zu seinen autobiographischen Romanen, der Aspekt des Tragischen und der gescheiterten Visionen stark in den Vordergrund. Sein letztes Buch "Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten" zeigt einen Wells, den die politischen, moralischen und technischen Entwicklungen zum Pessimisten werden ließ. Alle seine Pläne für den Aufbau einer neuen, besseren Welt hatten sich nicht erfüllt, und eine tiefe Hoffnungslosigkeit erfasste den stets kränkelnden Schriftstseller.

H.G. Wells, einer der meistdiskutierten Denker Europas und scharfsinnigsten Autoren seiner Zeit war zu einem gebrochenen Mann geworden. Er starb im Alter von 79 Jahren am 13. August 1946 in London.

Der Leser, der heute wieder zu den Geschichten dieses Autors greift, wird feststellen, daß seine besten Erzählungen nach wie vor von brennender Aktualität sind und dazu von oft dokumentarischem Naturalismus. Es sind entweder Allegorien des Zustandes, in dem die Welt sich befindet, die selbst höchsten literarisch-ästhetischen Ansprüchen genügen, oder aber von starker Symbolkraft geprägte SF-Klassiker, deren Interpretationen auch heute noch den Bruch erkennen lassen, der durch den Schriftsteller und seine ganze Epoche ging. Immer konfrontiert Wells in seiner phantastischen Prosa den Leser auch mit sich selbst, was zuweilen recht vergnüglich ist, manchmal jedoch durchaus zu Erschütterungen führen kann. Trotz mancher düsterer Prognosen und pessimistischer Perspektiven bleibt Wells ein Autor, dessen stilistische Klarheit und dessen origineller Ideengehalt von großer Schärfe und Überzeugungskraft sind.

Dieser Artikel erschien in Spookie Nr. 4, Februar 1997