Schock

Ein DING geriet in das Innere der Rakete und löste die Besatzungsmitglieder auf ...

50er Jahre Depressivum SCHOCK!

The Quatermass Experiment

von Werner Olles

Die Bewohner eines kleinen Dorfes in der englischen Grafschaft Berkshire geraten in Panik, als in unmittelbarer Nähe ihres Ortes nachts ein Weltraumschiff notlandet. Bereits kurze Zeit später trifft auf dem inzwischen von Polizei und Militär hermetisch abgeriegelten Gelände der Konstrukteur dieser Rakete, der Wissenschaftler Bernard Quatermass, ein, um die Bergungsarbeiten selbst zu leiten. Ihm zur Seite steht der Mediziner Gordon Briscoe. Aber noch befindet sich die Rakete im glühenden Zustand. Feuerwehren werden herbeigerufen, um sie mit Wasser abzukühlen, denn jede Sekunde ist kostbar für die Rettung der Besatzung. Schließlich gibt Quatermass den Befehl, die Tür durch drahtlose Fernsteuerung zu öffnen.

Es mutet fast gespenstisch an, wie aus der schwarzen Raketenöffnung eine menschliche Gestalt heraustaumelt, zusammenbricht und wie tot liegenbleibt. Es ist Victor Carroon, das jüngste Mitglied der Besatzung. Von den anderen Männern ist nichts zu sehen. Vorsichtig betritt Quatermass die Rakete. Was er vorfindet, läßt auch ihn vor Entsetzen erstarren: Da liegen auf den Lagern die Weltraumanzüge, fest angeschnallt, aber die Raumfahrer sind verschwunden, haben sich in Nichts aufgelöst. In Nichts? In den Ecken und Spalten findet der Professor Spuren einer geleeartigen Masse. Eine medizinische Untersuchung ergibt, daß es sich um zerstörtes Gewebe handelt - menschliches Gewebe.

Ein während des Fluges automatisch aufgenommener Film gibt endlich Aufschluß: Ein nicht zu identifizierendes DING geriet in das Innere der Rakete und löste die Mitglieder der Besatzung auf - bis auf Carroon. Trotz eindringlicher Warnungen des Inspektors Lomax von Scotland Yard hat Quatermass Carroon in sein Versuchslaboratorium bringen lassen, wo Dr. Briscoe den völlig apathischen Mann untersucht. Was der Arzt auch immer versucht, Carroon zeigt keine Reaktion. Er liegt nur da und starrt ins Leere. Gelegentlich ein Laut, verzerrt und wie der eines Tieres - sonst nichts.

Ihr Blick fällt auf seine Hand, die sich in einen Kaktus verwandelt hat.

Ein schrecklicher Verdacht überkommt Quatermass: Sollte es im All ein eigenes Leben geben? Eine lebende Macht mit einer eigenen, fremden Intelligenz, die Mittel und Wege gefunden hat, in die Rakete einzudringen? Und hat diese Macht die Gewalt über Carroons Körper und Geist übernommen? Vor den Augen von Ouatermass und Briscoe erfährt Carron eine unerklärliche physische Veränderung. Judith, seine Frau, ist besorgt, daß Professor Quatermass mehr daran gelegen ist, von seinem Patienten zu erfahren, was sich tatsächlich ereignete, als ihm zur dauerhaften Genesung zu verhelfen. So schmuggelt sie Carroon unbemerkt aus dem Krankenhaus, in das man ihn mittlerweile gebracht hat. In seinem Krankenzimmer fühlte sich Carroon kurz zuvor mit fast magischer Gewalt von einem Kaktus angezogen. Es schien so, als wolle er sich gegen das Gewächs wehren, indem er mit seiner Hand zuschlug, mitten in den Kaktus hinein, der im gleichen Augenblick verschwand.

Als Judith ihren Mann mit dem Auto wegbringen will, fällt ihr Blick auf seine Hand, die sich in einen Kaktus verwandelt hat. Sie schreit vor Entsetzen auf, und Carroon verläßt den Wagen und verschwindet in der Nacht. Offenbar hat er genug Intelligenz behalten, um zu erkennen, daß er für seine Frau eine Gefahr darstellt. Das DING, was immer es auch sein mag, kann augenscheinlich auch pflanzliches Leben absorbieren. Carroon und die Macht, die in ihm steckt, von nun an ständig auf der Flucht, bedeuten Höchste Gefahr für jedes Lebewesen. Menschen und Tiere, die von ihm berührt werden, müssen ihr Leben lassen. Blut und Gewebe werden förmlich aufgesogen - es bleibt wenig mehr übrig als das Skelett.

Inspektor Lomax bietet alle Mittel auf, um Carroon unschädlich zu machen, der sich körperlich immer mehr zu einem abscheulichen Ungeheuer entwickelt. Schließlich wird Carroon, der sich im Dachgewölbe der Westminster-Kathedrale versteckt hat, von einem Kamerateam zufällig entdeckt. Schon hat er die fürchterliche Gestalt eines riesigen, schleimigen Kraken, dessen gräuliche Fangarme Unheil verkündend durch den Raum peitschen. Quatermass und Lomax ordnen die sofortige Räumung der gesamten Umgebung an.

Der Film, der nach einer populären Fernsehsendung entstand, erschütterte Großbritannien nachhaltig

Am Fernsehkontrollgerät beobachten sie die weitere Entwicklung der Dinge. Zusehends vergrößert sich das Untier und der Doktor errechnet, daß in spätestens zwei Stunden dieses Wesen in der Lage ist, seine schädlichen Fortpflanzungskeime über ganz London zu verbreiten. Der Professor trifft eine entscheidende Anordnung: Das gewaltige Strompotential von London wird in das Baugerüst gejagt, auf dem das Monster hängt. Während die verkohlten Reste der Kreatur noch von Neugierigen umlagert werden, verläßt Quatermass die Stätte des Grauens. Der Start der nächsten Rakete muß vorbereitet werden...

QUATERMASS EXPERIMENT war der Auftakt zu einer Serie von insgesamt vier QUATERMASS-FILMEN: QUATERMASS II - ENEMY FROM SPACE (dt. FEINDE AUS DEM NICHTS, 1957), QUATERMASS AND THE PIT (dt. DAS GRÜNE BLUT DER DÄMONEN, 1967) und QUATERMASS CONCLUSION (1978). Zugleich gelang der britischen Hammer-Produktion mit SCHOCK der internationale Durchbruch. Der Film, der nach einer populären Fernsehsendung entstand, erschütterte Großbritannien nachhaltig und entwickelte sich im Laufe der Jahre zu, einer Art Kultfilm. Es war die geniale schwarzweiße Mischung aus Horror und Science Fiction, dazu kam Val Guests routinierte Regie, ein kompaktes und handwerklich perfektes Drehbuch und großartige Schauspieler wie Brian Donlevy als Prof. Quatermass und Richard Wordsworth als Victor Carroon. Obwohl der Film mehrere, äußerst spannungsreiche und unheimliche Höhepunkte hat, ist die dramaturgisch geschickt eingeleitete Vernichtung des Monsters wohl die beste Szene dieser grandiosen SF/Horror-Saga.

Val Guest hat ohne große Spezialeffekte einen Film geschaffen, der vor allem durch die eindrückliche Darstellung des infizierten Astronauten Carroon - Richard Wordsworth agiert so hervorragend, daß man meinen könnte, er spiele sich selbst - auch heute noch sehenswert ist. Trotz einiger genreüblicher Übertreibungen zeigt er den verunglückten Raumfahrer nicht einfach als blutrünstiges Ungeheuer, sondern as physisch und psychisch kranken Menschen, dem seine unheilvollen Veränderungen keine andere Wahl lassen, als zu töten. Auch die übrigen Figuren sind psychologisch glaubwürdig charakterisiert und werden durchweg von erstklassigen Schauspielern - allen voran der herrliche Brian Donlevy - verkörpert. Seine mit unterkühlter Radikalität angelegte Figur des Prof. Qatermass ist alles andere als ein grotesker ,"mad scientist" oder ein obskurer "Dr. Seltsam".

Zwar ist Qatermass ein Dezisionist, der seine Befehle kurz und präzise erteilt und von demokratischen Diskussionen offensichtlich nicht allzuviel hält, aber dies geschieht aus einem konsequenten Pflichtgefühl heraus, das im Zweifelsfall bis zum Äußersten geht.

SCHOCK war eine apokalyptische Vision, eine "Seinsfrage"

SCHOCK verbreitete die antimodernistische Botschaft schlechthin. Und Prof. Quatermass, der autoritäre Nihilist, der zum Wohle des technischen- und militärischen- Fortschritts über Leichen ging, maß die britische Gesellschaft an ihren ureigensten Prinzipien und klagte sie wortlos an, in der Lüge zu leben. Schließlich wolle sie den technischen Fortschritt, aber Opfer dürfe es dabei natürlich keine geben. Tatsächlich ist das Ende des Films, das einen ungebrochen zu neuen Taten schreitenden Quatermass zeigt, von einem beeindruckend zynischen Pessimismus, der bis heute seinesgleichen sucht.

SCHOCK hat das negative Weltbild und die Misanthropie jener juvenilen Pennäler, die vor fast vierzig Jahren aufbrachen, um diesen Film in längst verschwundenen Frankfurter Vorstadtkinos zu sehen (und zu denen auch der Schreibende gehörte) wahrscheinlich mehr geprägt, als das der Algerien- oder der Korea-Krieg vermochten. Er ließ sie noch lange danach nicht in Ruhe; stürzte sie hingegen in seelische Spannungen und innere Gegensätze, die so absolut waren, daß keine Psychologien sie erreichen. SCHOCK war eine apokalyptische Vision, eine "Seinsfrage", dessen Hauptfiguren sich als Gestalten des Weltgerichts enttarnten: Der Gott versuchende Quatermass, die xenomorphen Teufel aus dem All und der geopferte Raumfahrer als gekreuzigter Christus. Weil SCHOCK im Grunde nirgends ankommt, sondern erschöpft und überanstrengt im reinen, nuancen- und hoffnungslosen Dunkel, der Farbe des Grauens, endet, fühlt man sich dieser Deutung noch immer ausgeliefert.

 

SCHOCK (The Quatermass Experiment, GB 1955)

  • Regie: Val Guest
  • Drehbuch: Richard Landau, Val Guest
  • Kamera: Walter Harvey, Leonard Harris
  • Musik: James Bernard
  • Spezialeffekte: Les Bowie
  • Darsteller: Brian Donlevy, Richard Wordsworth, Jack   Warner, Margia Dean, Thora Hird u.v.a.

Literaturhinweis:

  • Das Quatermass Dossier von Bodo Traber, Splatting Image, Nr. 16, Dezember 1993
  • Lexikon des Science Fiction Films von Ronald M. Hahn und Volker Jansen, Wilhelm Heyne-Verlag, München

Quatermass im TV

THE QUATERMASS EXPERIMENT war die erste britische SF-Fernsehserie und verschaffte der BBC im Sommer 1953 sensationelle Einschaltquoten, so sensationell, daß die aus sechs halbstündigen Folgen bestehende Reihe im Herbst 1955 (QUATERMASS II) und im Winter 1959 (QUATERMASS AND THE PIT) zweimal fortgesetzt wurde. Zu allen drei Serien verfaßte Nigel Kneale das Drehbuch. Da damals Fernsehserien noch "live" gespielt und übertragen wurden, existieren von THE QUATERMASS EXPERIMENT und QUATERMASS II keine Mitschnitte. Lediglich QATERMASS AND THE PIT konnte dank der damals neuartigen MAZ-Technik aufgezeichnet werden.

Dieser Artikel erschien in Spookie Nr. 0, Januar 1996